Rückfall in die Steinzeit statt Aufbruch

Die Welt ist im Wandel. Geopolitisch, aber auch technisch. Die Zeit scheint zu rasen. „Responding to change“ wird immer entscheidender, und auch Nassim Nicolas Taleb‘s Theorie der Antifragilität wird immer präsenter um in dem sich immer schneller drehenden Strudel zu überleben: Stillstand heißt Untergang. Status quo bewahren heißt mittlerweile in wenigen Monaten bankrott zu sein statt bislang Jahrzehnten. Die Fähigkeit, mit dem Wandel zu gehen, ja sogar aus ihm zu wachsen und ihn zum Besten zu nutzen, ist eine unverzichtbare Überlebensstrategie. Das heißt nicht, jeden Furz mitzumachen und jedem Hype sofort hinterherzurennen. Aber gewappnet zu sein, im Ernstfall „all-in“ gehen zu können. Z.B. im aktuellen Feld der KI, aber auch in zukünftigen Technologien am Horizont. 


Deutschland hat es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, mit seinen breit aufgestellten Forschungsinstituten, angefangen bei den Universitäten über Fraunhofer bis Helmholtz und wie sie alle heißen neue Trends teilweise selbst mitzuentwickeln und hervorzubringen, technologisch eben nicht abgehängt zu sein. Cash haben dennoch meistens die anderen gemacht (MP3) - daraus eine vermarktbare Rakete zu bauen, das ist uns einfach noch nicht gelungen. Dennoch: Das Potential ist eigentlich da, und wir sollten den Glauben nicht verlieren, dass wir hier mithalten können (und müssen) und neue Kernindustrien jenseits der Verbrenner-Töff-Töffs aufbauen können, antifragil den Wandel zum eigenen Nutzen ausbauen können. Beispiel: Erneuerbare Energien und Energie-Unabhängigkeit. 


Wenn ich mich nun allerdings in meinem direkten Jobumfeld umschaue - ich bin als IT-Berater beschäftigt - wundere ich mich über einen kompletten Rückschritt. Dies betrifft nicht primär meine Firma, sondern scheinbar das gesamte Umfeld. Im Tagesgeschäft habe ich es mit teils bis zu 20 Jahre jüngeren Menschen zu tun, die mit dem Stichwort Agilität überhaupt nichts am Hut haben. Agilität ist nicht der Heilsbringer für alles, und ich werde hier nicht den Propheten geben. Aber auch die Weiterentwicklung, weg vom Trend Products hin zu Experience (vgl. Jurgen Appelo) - völlig unbekannt bei den Kollegen, den Marktpartnern, egal wo ich hinschaue. Die Prägungen sind von Partner zu Partner immer unterschiedlich. Die einen sind noch hierarchischer organisiert, die anderen etwas weniger, aber eins bleibt unterm Strich doch immer erhalten: Ober sticht Unter, und die Consulting-Suppe nährt dieses Vorgehen noch mit eigener Inkompetenz und einem Weitblick bis zur Zimmertür: Da wird protokolliert. Da wird aufgeschrieben. „Wer schreibt, der bleibt“ erfreut sich wieder großer Beliebtheit. Anstelle einer kurzen Notiz in Jira wird dort eine längliche „Anforderung“ eingetippt vom extra dafür eingestellten „Requirements Engineer“, gesteuert über Excel-Todo-Listen und flankiert von seitenweise Protokollen, welche verschickt und ordentlich in Sharepoint, der digitalen Müllhalde unserer Zeit, archiviert werden - lesen tut sie eh fast keiner. Statt Userstories werden harte Requirements formuliert: Statt den Sinn und Zweck zu beschreiben, werden im Imperativ bereits Lösungswege „vorgedacht“ und eingetütet. Von „Es ist zu erfüllen“ und „sind zu erstellen“ ist da die Rede, und wenn ich da mal reinsteche und frage: Wer erfüllt‘s? Und wozu? Kommt nur warme Luft. Die Ampel ist tot? Vielleicht politisch, aber nicht in den Amtsstuben unserer Wirtschaft: dort erfreut sie sich wieder großer Beliebtheit in länglichen Status-Weeklies. Wir sitzen immer noch oder wieder in Planungsrunden, in Lenkungskreisen, basteln Entscheidungsvorlagen in PowerPoint für die Großkopferten, damit diese mundgerecht Dinge präsentiert kriegen, von denen sie eh keine Ahnung haben, aber darüber entscheiden müssen. Statt Führung im Sinne von „ich kann nichts versprechen, aber ich lege mich ins Zeug für euch“ wird Resignation und Gleichgültigkeit seitens dieser erlauchten Führungskräfte vorgelebt. Ein Syndrom, welches es nur in meiner eigenen Bubble gibt, die sich halt nicht weiterentwickelt hat? Mitnichten! 


Ich bekomme Jobangebote, da ist nicht mehr die Rede von UX, Agilität, Innovation oder dergleichen, sondern der alte Teamleiter ist wieder da, der leider nie ganz totgeschlagene Projektleiter kraucht als Zombie allenthalben wieder durch die Lande, Projektmanager und längst tot geglaubtes Gesocks aus der Mottenkiste zieht neue Kreise. Agilität? Komplett tot. Komplette Rolle rückwärts. Während in anderen Ländern Agilität weiterentwickelt wird und man längst weg ist von Konstrukten wie festen Team-Gedanken - Evolution eben - ist man in Deutschland wieder schön in der Matrix angekommen. Kollegen schreiben wieder monatelang an Fachfeinkonzepten, die Bitte zur Kooperation wird abschlägig beschieden weil man sich noch in der Grobkonzeptionsphase befinde. Wasserfall in Reinstform wird wieder gelebt, Stunden und Monate vergeudet mit bergeweise Dokumentation, die niemals ein Schwein liest. Prozesse haben wieder die Oberhand gewonnen über Menschen und deren Interaktionen, die eh auf ein Minimum geschrumpft sind seit Corona (Kamera deaktiviert aus dem Homeoffice). Was bleibt ist „geschreibt“ um es sich irgendwie reimbar zu machen und genau so auszudrücken, wie scheiße es eigentlich ist. Aber wenn eh nichts delivered wird, die Inkremente ein Witz sind, nichts verbessern, dann ist Dokumentation halt auch alles, was bleibt.


Ich fürchte, mit dieser Mentalität werden wir komplett den Bach runtergehen. Meine Hoffnung besteht darin, dass es in anderen europäischen Ländern besser und sinnvoller läuft, und dass diese dann für uns das Steuer übernehmen. Ich arbeite gerne für einen holländischen oder französischen Konzern, die sich letzten Endes weiterentwickelt haben, antifragiler wurden statt komplett zurück in die Schreibstuben-Epoche zurückzufallen. Meine Hoffnung ist da, dass es solche Nischen aber auch noch in Deutschland gibt, und diese Unternehmen zwangsläufig die Oberhand gewinnen müssen über die absterbenden Dinosaurier. So traurig es dann ist, dass es dann vielleicht keinen deutschen Automobilkonzern mit wenigen Buchstaben mehr gibt - hoffen wir, dass aus der Asche der vergammelten Saurier schöne neue Gewächse hervorgehen. Oder die Saurier plötzlich das Fliegen gelernt haben und erkennen, dass es gar keine Notwendigkeit mehr gibt, herumzusauriern. Darauf freue ich mich. 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

HTML5 vs. Silverlight aka Ajax vs. Java Applets. A trip in the time machine

Using a shared local network folder in a Windows environment as Git repository

Using the MOQ framework to compare objects or: why equals are (not always) equal